Herr Eul, Sie hatten die Idee für dieses Projekt. Wie ist es dazu gekommen?
Dr. Thomas Eul: Das war 2014. In einem Nachtdienst traf ein Patient mit schwerem Herzinfarkt tief in der Nacht in der Klinik ein. Er hatte zuvor schon rund zehn Stunden immer wieder starke Schmerzen im Brustkorb und Atembeschwerden verspürt und fuhr noch selbst in die Klinik.
Am folgenden Vormittag habe ich etwas übermüdet mit Chefarzt Professor Dr. Andreas Jeron einen Kaffee getrunken. Wir haben darüber diskutiert: Warum alarmieren Menschen trotz typischer und starker Beschwerden, die auf einen Herzinfarkt hindeuten können, nicht den Rettungsdienst? Eine Möglichkeit erschien uns, dass sie die Symptome eines Herzinfarkts nicht kennen. Ich machte den Vorschlag: Überlegen wir uns ein Aufklärungsprojekt für unseren Landkreis! Professor Jeron antwortete: „Gute Idee! Überlegen Sie sich mal was“.
Das war der Auslöser. Aber bis zur Vereinsgründung hat es noch zwei Jahre gedauert?
Prof. Dr. Andreas Jeron: 2014 sind wir in die neue Klinik in Winnenden eingezogen und es gab viel zu organisieren. Die neue Klinik gab uns die Option vieler neuer Therapien. Teils konnten wir schon damals Verfahren anbieten, die außerhalb von Universitäten nur in sehr wenigen Kliniken durchgeführt wurden. Die Überlegungen zum geplanten Aufklärungsprojekt gingen stetig weiter. Denn wir wollten mehrere konkrete Ziele erreichen.
Welche waren das?
Prof. Dr. Andreas Jeron: Uns beschäftigten die Fragen: Wie können wir es schaffen, dass Menschen schneller den Notruf wählen? Was müssen wir unternehmen, dass mehr Menschen reanimieren? Wie befähigen wir sie, im Notfall einen Defibrillator zu benutzen, der bei Herzinfarkten Leben retten kann?
Was war der nächste Schritt?
Prof. Dr. Andreas Jeron: Nachdem wir ein Konzept aufgestellt hatten, wurde uns klar, dass wir schlagkräftige Partner finden müssen, die uns unterstützen. Zuerst hat Herr Michael Augustin der AOK Ludwigsburg-Rems-Murr Interesse bekundet. Bei einem Treffen hat er detaillierte Fragen gestellt – aber immer mit ernster Miene. Nach dem Austausch dachten wir: Das war´s mit der Idee, die melden sich nie wieder! Zum Glück hat Herr Augustin sich kurze Zeit später persönlich bei mir gemeldet und großes Interesse der AOK bekundet. Seine Miene sei so ernst gewesen, da er sich viele Gedanken gemacht und bereits an die konkrete Umsetzung gedacht hatte. Ohne dieses Signal der AOK hätte das Projekt nicht so schnell Fahrt aufgenommen.
Was geschah danach?
Prof. Dr. Andreas Jeron: Wir merkten, das Projekt kommt gut an. Wir konnten die Deutsche Herzstiftung gewinnen und auch die Geschäftsführung der Rems-Murr-Kliniken war mit an Bord. Das DRK mit seinen 26 Ortsvereinen und den vielen Erste-Hilfe-Ausbildern war begeistert. Mit diesen Partnern, den niedergelassenen Kardiologen im Landkreis sowie den in der Rems-Murr Klinik tätigen Kardiologen konnten wir im Herbst 2016 endlich unseren Verein „Gemeinsam gegen den Herzinfarkt e.V.“ gründen!
Was fehlte noch?
Dr. Michael Sailer: Jetzt brauchten wir noch zwei Schirmherren. Unser Landrat Dr. Richard Sigel und Wilfried Klenk, damals Staatssekretär im Innenministerium Baden-Württemberg sagten direkt zu. Das hat zweifelsfrei einige Türen geöffnet. Auch konnten wir die Stiftung der Kreissparkasse Waiblingen als Unterstützer gewinnen, die dann die erfolgreiche Auftaktveranstaltung im Frühjahr 2017 organisiert und durchgeführt haben.
Wie viele Veranstaltungen folgen in den nächsten Jahren?
Dr. Michael Sailer: Von 2017 bis zum Beginn der Corona-Pandemie, die weitere Veranstaltungen verhinderte, führten wir knapp 100 Veranstaltungen durch, in aller Regel gemeinsam mit ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern des DRK-Rems-Murr.
Was war das Konzept?
Dr. Michael Sailer: Stets hat ein Kardiologe einen Vortrag gehalten. Danach wurde die Wiederbelebung an Puppen geübt und die Durchführung der Defibrillation an entsprechenden Übungsgeräten geschult. Somit ging es um Prävention, Symptome und konkrete Erste Hilfe. Ein perfekter Mix – selbstverständlich völlig unentgeltlich für alle.
Welchen Effekt hatten die Veranstaltungen?
Dr. Michael Sailer: Die Leute sprachen nun über den Herzinfarkt. Und sie lernten, wie es möglich ist, bei einem Herz-Kreislaufstillstand Leben zu retten, wenn man keine Angst hat, reanimiert und einen Defi einsetzt.
Wie wichtig ist ein Defibrillator?
Dr. Michael Sailer: Ein Defibrillator ist ein Gerät, das über Elektroden, die auf den Körper geklebt werden, Stromstöße abgibt, um den gestörten Herzrhythmus zu normalisieren. Es kann Leben retten. Nach Veranstaltungen wurden viele Defibrillatoren gespendet und vielerorts waren bereits Defibrillatoren öffentlich zugänglich. Aber niemand hatte einen Überblick. Das haben wir geändert: Thomas Brucklacher hatte die einzigartige Idee des „Definetz Rems-Murr“.
Was hat es damit auf sich?
Thomas Brucklacher: Bei unseren Veranstaltungen erleben die Menschen, dass ein Defi den Unterschied ausmachen kann, wenn schnell geschockt wird. Vielerorts gab es bereits öffentlich zugängliche Defis. Allerdings gab es keine Übersicht über die Standorte. Und was helfen Defis, wenn niemand sie nutzen kann? Daher habe ich eine Karte programmiert, in der die Geräte erfasst und der Integrierten Leitstelle zur Verfügung gestellt werden. Die Leitstellen-Disponenten können Anrufern mitteilen, wo sich der nächste Defi befindet und Menschen auch hinführen. Das Netz wächst, denn viele Geräte werden gespendet.
Warum?
Dr. Thomas Eul: Unser Projekt wurde wissenschaftlich begleitet. Was wir in der begleitenden Studie feststellen konnten: Am nützlichsten sind Defis in den Händen der Helfer vor Ort. Das sind ehrenamtliche Lebensretter aus der Nachbarschaft, die bei Einsatzstichworten wie „Herzstillstand“ alarmiert werden und in wenigen Minuten am Notfallort eintreffen – häufig vor dem professionellen Rettungsdienst. Dort können sie sofort „schocken“. Daher haben wir dafür geworben, sich zum Helfer vor Ort ausbilden zu lassen. Beim DRK sind mittlerweile mehr als 220 qualifizierte Helferinnen und Helfer registriert. Das Helfer-vor-Ort-System rettet Leben.
Ist Ihr Projekt „Gemeinsam gegen den Herzinfarkt“ ein großer Erfolg?
Dr. Thomas Eul: Uneingeschränkt Ja! Die Zeit, bis Betroffene mit Herzinfarkt bei der Integrierten Leitstelle in Waiblingen einen Notruf absetzen, verkürzte sich im Median von 95 Minuten im Jahr 2016 auf 58 Minuten im Jahr 2019. Die Quote der Wiederbelebung durch Ersthelfer und Helfer vor Ort bei einem Herz-Kreislaufstillstand stieg im selben Zeitraum deutlich von 35,3 Prozent auf 52,8 Prozent (in BW lag sie 2019 bei 39,3 Prozent). Defibrillatoren werden im Rems-Murr-Kreis von Laien und Helfern vor Ort mit 5,2 Prozent etwa 50 Prozent häufiger eingesetzt als im Landesdurchschnitt. Wir haben 5000 Menschen direkt erreicht. Ein ganzer Landkreis wurde im April in Fellbach zum Lebensretter.
Herr Dr. Sigel, Sie haben sich als Schirmherr zur Verfügung gestellt, obwohl sie im Jahr 2016 die heute beschriebenen Ergebnisse natürlich noch nicht kennen konnten. Haben Sie von Anfang an einen Erfolg geglaubt, was hat Sie überzeugt?
Dr. Richard Sigel: Natürlich habe ich an den Erfolg geglaubt. Für mich war es ein persönliches Anliegen, diese einmalige Aufklärungsinitiative eines regionalen Bündnisses zu unterstützen. Der Kardioverein hat es geschafft, dass die Gefahren eines Herzinfarktes über mehrere Jahre im gesamten Landkreis beleuchtet wurden. Durch Vorträge und praktische Übungen ist unser Landkreis sicherer geworden. Mehr Menschen wissen, wie sie einem Herzinfarkt vorbeugen, wie sie Symptome erkennen und wie sie im schlimmsten Fall lebensrettende Sofortmaßnahmen durchführen können.
War das Projekt auch aus Sicht der Rems-Murr-Kliniken ein Erfolg?
Prof. Dr. Andreas Jeron: Ja! Die Ergebnisse sprechen für sich. Darüber hinaus konnte bewiesen werden, wie wichtig Aufklärung über gesundheitsgefährdende Themen ist, wenn diese nur konsequent und über Jahre durchgeführt wird. Nur durch das jahrelange Engagement aller Partner konnten signifikante Verbesserungen erzielt werden. Es hat sich in den Jahren ohne Veranstaltungen gezeigt, dass die Fort- und Ausbildung der Bevölkerung eine kontinuierliche Aufgabe ist.
Denn der Kardioverein wird aufgelöst? Warum?
Dr. Thomas Eul: Wir wollten Verbesserungen im Landkreis erreichen. Diese Aufgabe, die wir uns gestellt haben, ist erfüllt. So war von Anfang an der Plan: Nachweisen, dass Aufklärung sinnvoll ist. Die Übergabe an eine etablierte Einrichtung wurde immer als Option diskutiert. Daher freue ich mich sehr, dass unser Projekt fortgeführt wird durch unsere Freunde vom DRK. Denn getragen wird das Projekt in Zukunft durch die 26 Ortsvereine des DRK. Hier hoffe ich, dass die Ortsvereine durch die ortsansässigen Firmen, durch andere Vereine und die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister genauso gut unterstützt werden, wie wir dies in den vergangenen Jahren wurden.
Sven Knödler: Im Notfall zu helfen, gehört zur DNA des DRK. Aber wir haben uns auch Prävention auf die Fahnen geschrieben. Es ist für den Kreisverband und die vielen Ehrenamtlichen in den 26 Ortsvereinen eine Herzensangelegenheit, den gemeinsamen Kampf gegen den Herzinfarkt fortzusetzen. Nur wenn wir weiterhin aktiv sind, können wir die Erfolge im Kampf gegen den Herzinfarkt auch in der Zukunft garantieren und diese Erfolgsgeschichte fortschreiben.
Wie sieht es in Zukunft auf, wenn das DRK schockt?
Sven Knödler: Gemeinsam mit den Kardiologen haben wir einen Fahrplan entwickelt, um auch in Zukunft möglichst viele Menschen dezentral über Symptome, Gefahren und Prävention aufzuklären und dann die Praxis zu starten. Wir wollen eine flächendeckende und regelmäßige Umsetzung von Schulungsangeboten für die Menschen im Rems-Murr-Kreis sicherstellen. Die Ortsvereine werden eigenverantwortlich – und gerne mit lokaler Unterstützung – Veranstaltungen in die Wege leiten und die Praxis in den Mittelpunkt stellen. Unser Ortsvereine besitzen die notwendige Expertise und erfahrene Ausbildungskräfte, die wissen, wie sie Menschen für Erste Hilfe begeistern können.
Und wie macht man das?
Sven Knödler: Helfen kann jeder! Wer selbst probiert und sieht, wie einfach man helfen kann, ist bereit, über seinen Schatten zu bringen, und im Notfall sofort Erste Hilfe zu leisten. Nichts ist schlimmer als im Notfall nichts zu machen. Wer hilft, hat schon gewonnen – und kann vielleicht ein Leben retten. Nur das DRK kann mit seinen ehrenamtlichen Ausbildern eine flächendeckende Aufklärungsarbeit sicherstellen und bei den Menschen auch Ängste abbauen. Jeder Mensch kann Leben retten! Das vermitteln wir bereits erfolgreich in Kindergärten und Schulen.
Dr. Richard Sigel: Die Bereitschaft der DRK-Ortsvereine auch in Zukunft in der Fläche Veranstaltungen anzubieten, ist ein starkes Signal der Verantwortung und Tatkraft: Auf unsere Kardiologen, das Ehrenamt und unsere Partner wie die AOK ist Verlass. Unsere DRK-Ortsvereine und mit ihnen Tausende von Menschen im gesamten Rems-Murr-Kreis werden weiterhin gemeinsam gegen den Herzinfarkt kämpfen. Der Rems-Murr-Kreis schockt weiter!
An wen wenden sich Interessierte, damit viele Termine im Kreis stattfinden können?
Wer mit uns gegen Herzinfarkt kämpfen will, kann sich mit dem Kreisverband oder direkt mit den Ortsvereinen in Verbindung setzen. Egal ob Vereine, Gemeinden und Städte oder Schulen: Alle können sich an das DRK wenden und eine Veranstaltung anfragen. Diese wird dann durch die Ortsvereine durchgeführt. Und auch in Zukunft gilt, dass die Termine kostenfrei angeboten werden. Daher sind wir dankbar, dass die AOK das tolle Projekt weiterhin unterstützen wird.
Alexander Schmid: Die AOK Ludwigsburg-Rems-Murr hat es sich auf die Fahnen geschrieben, in Sachen Gesundheit bei Prävention und Behandlung voranzugehen und Verantwortung für die Region zu übernehmen. Das Projekt „Gemeinsam gegen den Herzinfarkt“ ist aus all dem eine perfekte Kombination, weswegen wir es seit Beginn und auch weiterhin sehr gerne tatkräftig unterstützen. Jede einzelne Veranstaltung und Schulung des Kardiovereins hat dazu beigetragen, dass immer mehr Bürgerinnen und Bürger für das Thema Herzinfarkt sensibilisiert sind und Menschenleben gerettet werden können. Sich auf diesem Erfolg nun auszuruhen, wäre ein Rückschritt. Darum ist es richtig und wichtig, den eingeschlagenen Weg kontinuierlich fortzusetzen. Die AOK Ludwigsburg-Rems-Murr ist sehr gerne als Partnerin weiter dabei.
Dr. Thomas Eul: Wir hoffen darauf, dass auch bei diesen Veranstaltungen teilweise die ortsansässigen Kardiologen und andere Ärzte anwesend sind, um das DRK zu unterstützen, auch wenn sich der „Kardioverein“ aufgelöst hat.
Zum Abschluss: Was ist Ihnen besonders wichtig?
Dr. Thomas Eul: Kürzlich fand eine große Diskussionsrunde unter Beteiligung vieler Professoren kardiologischer Kliniken der Universitäten sowie Minister Karl Lauterbach statt. Hiernach soll die Prävention viel wichtiger werden, da im besten Fall 90 Prozent der Herzinfarkte vermieden werden könnten. Genau darauf machen wir Kardiologen im Rems-Murr seit vielen Jahren aufmerksam. Wichtig ist tatsächlich, dass die Präventionsprojekte umgesetzt werden. Hier machen Krankenkassen gute Angebote. Es ist gut, eine Erkrankung schnell zu erkennen, professionelle Hilfe zu holen und Erste Hilfe durchzuführen. Aber am besten ist es, einen Herzinfarkt durch Gesundheitsförderung zu vermeiden. Das sind zwei Seiten einer Medaille.